40 Jahre Kongress-Jubiläum in der GLE-I – Eine existenzanalytische Biografie
Von der Begegnung zur Bewegung – über das Werden, Wachsen und Weitergehen einer lebendigen Tradition
„Es war einmal…“ – so beginnt nicht nur jedes gute Märchen, sondern auch eine echte Geschichte, wenn man sie mit dem Herzen erzählt. 1983 war es ein kleiner Kreis von Menschen, die sich auf den Weg machten, die Existenzanalyse weiterzuentwickeln.
Was damals als Tagung begann, wuchs in vier Jahrzehnten von einem „Großfamilienbetrieb“ zu einer Bewegung heran, die nicht nur die Landschaft der Psychotherapie, sondern auch zahllose Lebensgeschichten von unterschiedlichen Menschen geprägt hat (Längle 2002, 6). Kongresse in der GLE-I sind seither anders als nur Fachveranstaltungen. Sie sind Räume, in denen sich Dialog entfaltet, Gegenwärtigkeit spürbar wird – und in denen es immer wieder um die Fragen geht: Was bedeutet es, den Menschen existenziell zu verstehen? Was bewegt die Menschen und welche „Zeichen der Zeit“ gilt es sich zu stellen – psychotherapeutisch, psychologisch, gesellschaftlich (Längle 2013)?
Die GLE-I-Kongresse verbinden seit jeher Theorie und Praxis auf besondere Weise: Der klinische Fokus der Existenzanalyse bildet dabei nicht nur ein methodisches Zentrum, sondern auch ein ethisches – im Dienst einer Therapie, die behandelt durch die Begegnung.
Dabei lag die Stärke der GLE-I stets auch in ihrer internationalen Vernetzung: im Zusammenführen gemeinsamer Kräfte über Ländergrenzen hinweg, um auf unterschiedlichen Ebenen bestmöglich agieren zu können – sei es in Forschung, Ausbildung, Weiterbildung, auf Kongressen oder in der Zeitschrift. Entscheidend war dabei stets das gemeinschaftliche Handeln. Es war dieses Miteinander, das die Bewegung geprägt und gestärkt hat. Diese Energie wollen wir verantwortungsvoll weitertragen und bewusst nutzen. (Längle 2002, 6)
Ein Raum, der trägt – Begegnung als Grundhaltung
In der existenzanalytischen Therapie verstehen wir Begegnung nicht einseitig als Kontaktaufnahme, sondern als ein Geschehen, in dem sich das personale Wesen des Menschen zeigen darf. „Begegnungen münden daher in Beziehungen und Beziehungen leben aus der Begegnung. Sie werden durch Begegnungen ,personalisiert´. Und: Mit jeder Begegnung verändert sich die Beziehung (Längle 2004, 25). Der Kongress ist seit 40 Jahren ein solcher Begegnungsraum: Ein Ort des Innehaltens, des Fragens, des Miteinander-Seins – ein Raum, in dem Beziehung entsteht. Ob im improvisierten Seminarraum der 1980er oder im hybriden Setting der letzten Jahre: Das Anliegen dahinter war stets dasselbe – das existenzielle Erleben theoretisch und praktisch in den Mittelpunkt zu rücken. Der Kongress wurde so zu einem Podium des Dialogs, in der nicht das “Sich-Präsentieren”, sondern das “Sich-Zeigen” zählte. Kein Schaulaufen, sondern ein echtes Sich-Einbringen mit dem, was uns bewegt – persönlich wie professionell. Für Christoph Kolbe (2016, 46) bedeutet das in nuce: „Aus existenzanalytischer Perspektive geht es existenzieller Kommunikation um die Klärung der Frage nach dem für den jeweiligen Menschen guten, richtigen und erfüllten Leben.“
Entwicklung und Werden als Ausdruck von Lebendigkeit
So ist die Geschichte der Kongresse auch die Geschichte einer ständigen Weiterentwicklung und des Werdens – inhaltlich, organisatorisch, gesellschaftlich. In den 1990er und 2000er Jahren öffnete sich die GLE-I für neue Perspektiven: Themen wie Psychopathologie, Biographiearbeit oder Wertebegegnung wurden aufgegriffen und fruchtbar gemacht. 1992 ging es um ‚Biographie‘ – ein Thema, das ganz im Zentrum existenziellen Fragens steht. In diesen Jahren trat auch Viktor E. Frankl als Ehrenvorsitzender zurück – ein symbolischer Moment, der deutlich machte: Die Bewegung wächst über ihre Gründer hinaus. Die Gründung von Symposien, offenen Foren und thematischen Workshops spiegelte dann eine zunehmende Vielfalt innerhalb der Bewegung.
Die Kongresse wurden damit nicht nur größer, sondern auch differenzierter. Die existenzanalytische Haltung blieb – aber diese Plattform wurde kontextsensibler, diskursfähiger, dialogischer, phänomenologischer und Seins-Orientierter. Besonders prägend war dabei das Streben nach Tiefe und gleichzeitiger Anschlussfähigkeit: an andere Schulen, an aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, an die jungen Stimmen der nächsten Generation.
Professionalisierung und Dialog: Kongress als Verdichtungsraum
Seit den 2000er Jahren ist eine weitere Dimension hinzugetreten: Die Professionalisierung der Kongressplanung. Ein Kongress heute ist das Ergebnis jahrelanger Vorbereitung, getragen von vielen Beteiligten – inhaltlich, organisatorisch, gestalterisch. Die Frage „Worauf braucht es Antwort?“ wurde zur Richtschnur der Themenwahl. Ob Angst (2003, 2023), Trauma (2005), Leiblichkeit (2009), Paardynamiken (2008) oder gesellschaftliche Polarisierung (2025) – stets ging es darum, die existenzanalytische Perspektive an den Brennpunkten unserer Zeit zu verorten.
Renate Bukovski (2025) konstatiert: „Unser Kongress ist immer eine Komposition von einem zu entwickelnden Inhalt, einem Bedeutsamen erfassenden Titel, einer grafischen Umsetzung, einem Spannungsbogen im Plenarprogramm, mit Inhalten der EA, aber auch Dialogen zu angrenzenden Fachgebieten und einer Vertiefung des Themas.“
Die Kongresse sind dabei auch Orte des (Wieder-)Findens: von Kolleg:innen, von Inspiration, von Sinn. Und sie sind – wie es eine Teilnehmerin sagte – „ein Ort, wo meine Arbeit wieder Herz bekommt“. Denn das Personale ist nicht nur Thema, sondern Ton: in der Atmosphäre, im Miteinander, im Stil der Beiträge. Dahingehend gibt es ein Wiederbeleben des Sich-berühren -Lassens. Für Susanne Pointner (2018, 7), die in ihrem Buch ,Die Wiederentdeckung der Berührbarkeit´ Emotionen wieder gesellschaftsfähig macht, ist in diesem Horizont entscheidend. „Wir suchen den Resonanzraum auf, in dem wir freundlich und empathisch mit uns selbst umgehen lernen. Wir entdecken den Wertehunger, der sich hinter unserer Lebensgier versteckt. Wir trachten die Resilienz zu stärken, die uns robust und selbstwirksam macht, aber nicht unsensibel und rücksichtslos.“
Emmanuel J. Bauer (2025) unterstreicht die Notwendigkeit unserer Kongresse, indem er meint: „Wissenschaftliche Kongresse haben ja den Sinn, dass zentrale Themen, die uns als Therapeutinnen und Therapeuten betreffen, hier wissenschaftlich, international und interdisziplinär behandelt und vertieft werden, sodass ein echter Fortgang im Verständnis der Problemfelder der einzelnen psychopathologischen Phänomene und auch der Theorie, die dahintersteht, stattfindet. Ich sehe Kongresse als ganz wesentlichen Teil für eine solche Gesellschaft, wie wir sie sind – und da sollten wir in der wissenschaftlichen Diskussion auch mit vielen anderen Gebieten und Fachrichtungen im Austausch stehen.“ (Bauer 2025)
Was macht die Kongressleitung bei der inhaltlichen Konzeption genau? Für die inhaltliche Planung unserer Kongresse orientieren wir uns an mehreren grundlegenden Kriterien, die unsere Überlegungen leiten.
Die zentralen Kriterien (Kolbe 2024) lauten:
- Anthropologische und existenzanalytische Fundierung:
Ist das gewählte Thema aus Sicht der Existenzanalyse relevant und theoretisch fruchtbar? Können wir aus unserem Ansatz einen substanziellen Beitrag leisten? - Zeitgeschichtliche Aktualität:
Berührt das Thema gegenwärtige gesellschaftliche, kulturelle oder psychotherapeutische Herausforderungen? Spricht es inhaltlich in die Gegenwart hinein? - Praxisbezug in Beratung und Therapie:
Lässt sich das Thema konkret auf die Praxisfelder von Beratung und Psychotherapie beziehen? Dabei geht es auch um die Frage: Welche Weiterentwicklungen der existenzanalytischen Theorie könnten daraus entstehen – insbesondere im internationalen Kontext? - Thematische Einbettung in den Gesamtkontext vergangener und kommender Veranstaltungen:
Fügt sich das Thema sinnvoll in eine thematische Linie ein? Gibt es inhaltliche Übergänge, die zwischen zurückliegenden und zukünftigen Tagungen sichtbar werden? - Erfahrungsbezug und Alltagsrelevanz:
Knüpft das Thema an zentrale Daseinsfragen an, wie sie im gelebten Alltag der Menschen erfahrbar sind? Stiftet es persönliche Resonanz und existenziellen Bezug?
Vom Kongress zum Lebensbuch: Spuren im Denken und Wirken
Die neue GLE-Ö-Vorsitzende Susanne Pointner erwähnt die nachhaltige Bedeutung der Kongresse: „Aus den Kongressen ist viel Fruchtbares hervorgegangen – nicht nur fachlicher Austausch, sondern auch zahlreiche Publikationen, die unser Denken und Arbeiten weitergetragen haben.“ (Pointner 2025) Aus den Kongressen sind also Bücher, Zeitschriften und Weiterbildungen hervorgegangen – aber mehr noch: Spuren in Lebensgeschichten. Die Kongresse haben Denkprozesse angestoßen, Projekte initiiert, Ausbildungswege geprägt. Lehrtherapeut:innen berichten, wie bestimmte Vorträge oder Begegnungen zum Schlüsselmoment wurden. Besonders sichtbar wird das in der Vielfalt der Themen, die inzwischen Symposien füllen: von Kinder- und Jugendtherapie über Wirtschaft und Seelsorge bis hin zu Altern, Trauma oder gesellschaftlichen Spannungen. Die EA hat sich durch den Kongress multipliziert – und dabei stets ihren dialogischen Kern bewahrt.
Validierung
Die GLE-Kongresse wären nicht das, was sie heute sind, ohne die Menschen, die sie über all die Jahre geprägt, getragen und weiterentwickelt haben. Es ist die Vielzahl engagierter Persönlichkeiten, die – häufig im Ehrenamt – inhaltlich wie organisatorisch mitgewirkt und den Kongress mit Leben gefüllt haben: das unermüdliche Büro-Team, die Kongressleiterinnen und -leiter, Moderator:innen, Koordinator:innen – und nicht zuletzt die zahlreichen Plenar- und Symposia-Referent:innen, die ihre Expertise und Erfahrung eingebracht haben. Besonders hervorzuheben sind auch die international renommierten Stimmen der Psychotherapieszene, deren Beiträge den Kongressen Weite und Tiefe verliehen haben.
Ein Blick nach vorn – Hoffnung als existenzieller Entwurf
„Was wird uns in 10, 20 oder 40 Jahren bewegen?“ – Die Frage nach der Zukunft ist offen, aber nicht leer. Es gibt ein echtes, Wofür im franklschen Sinne, warum es sich lohnt, die Kongresse weiter gemeinsam mitzugestalten. Viele engagierte Lehrtherapeutinnen tragen – mit einer gesunden Spannung im Change-Prozess – das Feuer dieser wertvollen Tradition weiter. Im Mai 2026 wird sich die GLE dem Thema „Hoffnung“ widmen – mit dem Titel: „Es gibt doch (noch) Hoffnung!? Existenzielle Antworten auf Unsicherheit und Bedrohung in Psychotherapie und Beratung“. Ein Thema, das uns gerade jetzt zutiefst angeht – in einer Zeit globaler Krisen, gesellschaftlicher Spaltungen und persönlicher Erschöpfung. Doch Hoffnung, so verstehen wir sie existenzanalytisch, ist keine naive Erwartung, sondern ein schöpferischer Akt: die Fähigkeit, inmitten des Unfertigen sich vom Leben ergreifen zu lassen, um dialogisch einen Sinn zu entwerfen, sich ihm zuzuwenden und diesen zu vollziehen. So ist ein Kongress immer ein Möglichkeitsportal und „steht für eine Verantwortungsübernahme gegenüber der gewachsenen internationalen Vielfalt, für ein Bekenntnis zur weiteren Entwicklung der Existenzanalyse in differenzierten kulturellen Kontexten – und für den Mut, Traditionen weiterzudenken. Es ist ein Zeichen der Reifung, dass wir als Bewegung wachsen konnten – und gleichzeitig die nötige Struktur schaffen, um dieses Wachstum tragfähig, gemeinschaftlich und zukunftsorientiert zu gestalten.“ (Längle 2002, 6)
Ausblick: Die Geschichte geht weiter
Der Kongress ist somit keine Institution – er ist ein lebendiger Prozess. Und er lebt durch das Mitdenken, Mittragen und Mitgestalten seiner Teilnehmer:innen. Die GLE-I-Kongresse sind Ausdruck einer lebendigen Existenzanalyse: geerdet in der Erfahrung, offen für die Welt, getragen von der Haltung, dass das Wesentliche nicht gemacht, sondern entdeckt werden will – im Dialog, in der Begegnung, im Mut, sich zu zeigen – ganz und natürlich emotional.
40 Jahre GLE-Kongresse – das ist kein Rückblick, sondern ein Anfang.
Ein Innehalten, um weiterzugehen. Mit Dankbarkeit für das Gewachsene.
Mit Anerkennung und Wertschätzung für die vielen Lehrtherapeut:innen und Mitarbeiter:innen rund um Alfried Längle, die die Existenzanalyse durch die Kongresse inhaltlich lebendig gehalten haben.
Mit Freude über das Jetzt. Und mit dem Vertrauen darauf, dass der Mensch – in aller Brüchigkeit – ein Hoffnungswesen bleibt.