ABSTRACTS PLENARVORTRÄGE
V1 Christoph Kolbe Geschichte, Bedeutung und Verständnis biographischer Arbeit in der Existenzanalyse
Logotherapie und Existenzanalyse taten sich anfangs schwer mit einem Verständnis von Biographie, das die Geschichte, ihre Prägungen und mehr oder weniger (un-)verarbeiteten Erfahrungen des einzelnen Menschen in den Fokus beraterischer und psychotherapeutischer Begleitung stellen wollte. Dies hatte mit Frankls grundsätzlicher Kritik am Psychologismus der Psychotherapie seiner Zeit zu tun. Biographie wurde als Zukunftsentwurf gesehen, der Mensch in seiner Möglichkeit, immer auch ein anderer werden zu können, in den Blick genommen. Unter dem Eindruck des Gewichts biographischer Erfahrungen in ihrer Bedeutung für das Erleben und das Selbstverständnis von Welt und der Bezugnahme zu Werten änderte sich dieses Verständnis. Es rückte der Mensch mit seinen Haltungen, die sich häufig erst aus der Verarbeitung biographischer Erfahrungen erklären ließen, ins Blickfeld. Die therapeutische oder beraterische Arbeit an diesen Haltungen und ihr Verstehen wird inzwischen als eine Voraussetzung für eine authentische Lebensgestaltung gesehen.
Der Vortrag wird einen Überblick zur Geschichte der Bedeutung und des Stellenwertes biographischer Arbeit im Horizont der Logotherapie und Existenzanalyse geben und ein aktuelles Verständnis darlegen.
V2 Ralf T. Vogel Biographische Knotenpunkte und Individuation – Zur Bedeutung von Biographie und Biographiearbeit in der Analytischen Psychologie
Die Analytische Psychologie in der Nachfolge C.G. Jungs entwickelte in ihrem Verstehensversuch des Menschen auch eine dezidierte Sicht auf dessen Gewordenheit, seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen und deren intrapsychischer Verarbeitung. Gleichzeitig wird die Lebensgeschichte des/der Einzelnen auch als höchst subjektives, zielorientiertes Bearbeiten unhintergehbarer Entwicklungsaufgaben gesehen. Diese beiden hauptsächlichen Blickweisen auf die Biographie finden therapiepraktisch ihren Eingang in rekonstruktiv-hermeneutische Auseinandersetzungen einerseits und in dem Versuch des Verständnisses der aktuellen therapeutischen Beziehung als von dieser Biographie maßgeblich mitbestimmt andererseits. Der Vortrag gibt zunächst einen Überblick über die wichtigsten analytisch-psychologischen Konzepte von Biographiegeschichte (hier spielt v.a. Jungs Komplex-Psychologie ein Rolle) und zeigt dann konkrete therapeutische Umsetzungen auf.
V3 Claudia Reitinger Biografische Erfahrungen als Basis des Selbst- und Welterlebens - eine Falldarstellung
Jeder und jede von uns lebt in einer radikal anderen Welt. Sich diese Tatsache immer wieder vor Augen zu führen kann uns in der praktischen Arbeit mit Patienten*Innen dabei helfen, die Bedeutung einer phänomenologischen Haltung nicht zu vergessen, sich auf diese andere Welt einzulassen und dessen Schwierigkeiten auf Basis seines/ihres Selbst- und Welterlebens zu verstehen. Die Welt, in der wir leben, unsere Wahrnehmung von dieser, uns selbst und den anderen ist zutiefst davon abhängig, wie jede und jeder von uns in seinem Welterleben geprägt worden ist. Haben wir die Welt als unsicher wahrgenommen, als gefährlich, als kühl? Erleben wir die anderen als Bedrohung oder als Bereicherung? Fühlen wir uns minderwertig oder können wir uns „sehen“ lassen? Unser Welt- und Selbsterleben ist nicht für immer festgeschrieben. Durch immer neue Erfahrungen ist dieses in ständiger Veränderung. So webt sich der Zusammenhang zwischen Erfahrung und Erleben immer aufs Neue.
In diesem Vortrag wird das Selbst-und Welterlebens anhand eines Patientenbeispiels dargestellt, gezeigt, wie sich dieses In-der-Welt-sein entwickelt hat und inwiefern sich dieses im Laufe des therapeutischen Prozesses verändert hat.
V4 Dipl.-Psych. Dr. phil. Gerhard Zarbock "Negative Lebensbotschaften- Zur Redialogisierung von Biografie in der Therapie".
In der Biografisch-Systemischen VT (BSVT) spielt die Biografie in Diagnostik wie Therapie eine zentrale Rolle. Das Konzept der Negativen Lebensbotschaften (NELEBOs) verdeutlicht, wie sich biografische Lernerfahrungen in der kognitiven Struktur des Menschen niederschlagen.
Anders als das Konzept der „Grundannahmen“ oder der „Glaubenssätze“ betont das Konzept der Lebensbotschaft den dialogischen, interaktiven Ursprung der Botschaft. Auf Basis dieser Auffassung wird die Lebensbotschaft in der Therapie szenisch-dramatisch verlebendigt und es ergeben sich mehrere Wege für den Patienten mit der Lebensbotschaft in Kontakt zu treten und diese zu verändern. Scheinbar fixierte und als Gewohnheiten wirkende Einstellungen, die einst Ergebnis von toxischen Interaktionen waren, können so redialogisiert werden und sich nachhaltig und auch emotional basiert verändern.
Der Vortrag führt in das Konzept ein und veranschaulicht die Praxis an Fallbeispielen.
V5 Prof. Dr. Judith Glück Vom Lernen aus dem Leben
Die psychologische Weisheitsforschung ist ein rasch wachsendes Feld, das auch aufgrund des beunruhigenden Zustandes unserer Welt auf zunehmendes Interesse innerhalb und außerhalb der Psychologie stößt. Im Vortrag soll zu nächst eine aktuelle, integrative Definition weisen Verhaltens gegeben werden; anschließend wird darauf fokussiert, wie sich Weisheit entwickelt. Warum entwickeln nur relativ wenige Menschen Weisheit, obwohl praktisch jeder Mensch im Laufe seines Lebens mit schwierigen Ereignissen und Herausforderungen konfrontiert ist? Im MORE Life Experience Model haben wir vier persönliche Ressourcen vorgeschlagen, die die Entwicklung von Weisheit durch die Auseinandersetzung mit Lebenserfahrungen fördern. Diese Ressourcen sowie aktuelle Weiterentwicklungen des Modells werden vorgestellt.
V6 Prof. Dr. Raffael Kalisch Biografie und Resilienz – Wie kommt es zu Resilienz?
Die empirische Resilienzforschung fragt, wie es manche Menschen schaffen, trotz großer Herausforderungen, die das Leben für sie birgt, psychisch gesund zu bleiben, und versucht, aus ihren Erkenntnissen heraus neue Ansätze für die Vorbeugung stressbedingter Erkrankungen zu entwickeln. Nach der Klärung konzeptueller Grundlagen der Resilienzforschung im Allgemeinen und eines quantitativen Forschungsansatzes im Besonderen, werden die konkreten operationalen Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, anhand von aktuellen Beispielstudien erläutert. Es soll eine Theorie der Resilienz vorgestellt werden, die sich aus einem differentialpsychologischen Ansatz speist und in der Lage ist, den Einfluss verschiedenster individueller wie extra-individueller Einflussfaktoren über ein gemeinsames Wirkprinzip zu erklären.
Ebenso werden Ergebnisse erster empirischer Testungen erläutert und der Versuch unternommen zu zeigen, welche Berührungspunkte zu einer existenzanalytischen Herangehensweise bestehen.
V7 Jürgen Wiebicke Was die Erinnerung der anderen mit uns macht
Während die Angehörigen der letzten Generation der Zeitzeugen des 2. Weltkrieges hochbetagt sind und unweigerlich ihrem Lebensende entgegengehen, bestimmen Geschichtsleugner und Hassbereite in weiten Teilen unsere gesellschaftlichen Debatten. In unserer ganz persönlichen Gegenwart sind die Geschichten und Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern für das Verständnis unserer Zeit und unserer eigenen Biografien aber vermutlich unverzichtbar. Um all dem auf die Spur zu kommen, ist das Gespräch zwischen den Generationen über die prägenden, schmerzlichen und womöglich lange unaussprechlichen Widerfahrnisse nötig. Der richtige Zeitpunkt hierfür ist ganz sicher nur eine der Hürden, die zu bewältigen sind, um zum Archäologen des eigenen Lebens werden zu können
V8 In Arbeit Transgenerationale Biographie
Es soll die Frage im Fokus stehen, welchen Sinn der Einbezug der transgenerationalen Biographie im Therapieprozess von KlientInnen macht.
Vor dem Hintergrund dieser Frage werden in Form eines „Berichts aus der Werkstatt“ sowohl das theoretische Konstrukt als auch mögliche therapeutische Vorgehensweisen aus dem systemischen Behandlungsspektrum veranschaulicht. Fallvignetten verdeutlichen den Ansatz und seine Wirkweisen.
Es kann beobachtet werden, wie sich Schicksalszusammenhänge aus der Herkunft musterhaft und oft „blind“ in unseren individuellen Problemen und Beziehungskonflikten spiegeln.
Aus unserer hypno-systemischen Perspektive sehen wir die jeweilige Symptomatik als Leistung des Unbewussten um im familiären Loyalitätsanspruch zurecht zu kommen.
Das Wissen um diese sinnstiftenden Zusammenhänge kann zu einer erweiterten, freundlicheren Sicht auf das eigene Schicksal verhelfen und entlasten. Für die Lösung gegenwärtiger Probleme ist es jedoch nicht hinreichend.
Lösungsmöglichkeiten im Sinne von Heilung können sich unter günstigen Umständen erst im Spannungsfeld zwischen behindernden Loyalitäten und der Herausforderung, diese zu überwinden, zeigen. So kann sich ein Prozess zu einer „bezogenen Individuation“ entwickeln.
Über die Würdigung der Leidtragenden und damit auch die Würdigung eigener verinnerlichter Anteile aus dem familiären Bindungsraum entsteht heilsames Mitgefühl mit sich selbst und am Ende vielleicht Frieden mit belastenden Beziehungen und Unerfülltem im Leben.
Ziel ist es, mehr Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben zu erfahren.
V9 Markus Angermayr Der Körper als sedimentierte Biografie Zum Verhältnis von implizitem, leiblichem Wissen und explizitem, autobiografischen Erinnern
In meinem Vortrag werde ich die beständigen körperleiblichen Mikroprozesse in den Blick nehmen und die Bedeutung des körperleiblichen Bezugs für die Erinnerung herausstreichen.
Im Gegenwartsmoment ist das gesamte Leben verkörpert, und zwar in einer Weise, die dem Rhythmus, der Haltung und dem Ausdruck der Situation im Augenblick entspricht. Im Moment der Präsenz, der Wahrnehmung, Akzeptanz und Zustimmung geschieht die Anverwandlung des sich in mir Ereignenden. Es ist ein Er-Innern, das innere Aufmerksamkeit benötigt. Im lebendigen gegenwärtigen er-innern zeigt sich zugleich – implizit – die Verbindung mit meinem Geworden-Sein. Präreflexive und bisher unbewusste „autonome“ Körperphänomene bekommen Raum sich zu zeigen und erschließen uns leiblich wahrgenommene biografische Aspekte. Spannend sind dabei Phänomene, die sich uns im Strom des Erinnerns nicht gezeigt haben oder unserer autobiografischen Erinnerung sogar widersprechen. Ohne körperleiblicher Sedimentierung, wie sie im impliziten Leibgedächtnis gespeichert sind, können wir uns keinen Vers auf den Lebenslauf machen.
V10 Christiane Groß Zum existenzanalytischen Verständnis des sogenannten Inneren Kindes
Die Metapher des „Inneren Kindes“ ist auf dem Markt der Selbstheilung eine sehr populär gewordene Vorstellung. Auch viele psychotherapeutische Ansätze haben die „Innere Kind-Arbeit“ in therapeutischen Verfahren manifestiert. Dieser Vortrag zeichnet das existenzanalytische Verständnis der Metapher des „Inneren Kindes“ nach und widmet sich folgenden Fragen: Worum handelt es sich beim „inneren Kind“ aus Sicht der Existenzanalyse? Wie lässt sich das theoretisch einordnen und in der beraterischen/therapeutischen Praxis methodisch einbinden?
V11 Ingo Zirks Die Sexualität des Menschen als Schicksal und Aufgabe
Die Vielgestaltigkeit und Potentialität in der Sexualität stellen den Menschen vor die Aufgabe, immer wieder eigene Formen der Intimität und Sexualität sinnlich-emotional zu erfahren, sie zu verstehen und personal zu gestalten. Die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und das Scheiden von fremden Zusprechungen oder Definitionen sind über den Lebenslauf hinweg immer wieder anspruchsvoll. Der individuelle Weg ist oft nicht ohne intra- und interpersonelle Konflikte zu verwirklichen. In diesem Vortag sollen zentrale Fragestellungen und Herausforderungen benannt und unterstützende existenzanalytische und sexualtherapeutische Perspektiven zum Verständnis und Umgang mit sexuellen Lebensthemen angeboten werden.
V12 MATUSZAK-LUSS Karin, Dr.in med. Wenn Biografie Stellungnahmen unmöglich macht
Der Mensch als biopsychosoziales Wesen braucht aus dem existenzanalytischen Verständnis heraus einen Dialog, der von der Umwelt an ihn herangetragen wird und den er selbst initiiert. In diesem Dialog wird die Person immer vom Außen und vom Inneren ergriffen und/oder gibt Antwort auf das Äußere und/oder Innere. Das Angesprochen-sein und das Willkommen- geheißen-sein am Beginn unseres menschlichen Daseins ist entscheidend für die Ausgestaltung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die emotionale Grundfärbung, die Fähigkeit in Beziehung zu treten und zu bleiben, die personale Ich- und Selbstformung und für eine existenzielle Erfülltheit. Erleben Menschen im Laufe ihrer Entwicklung Begegnungen und/oder Ereignisse, die sie hilflos und ohnmächtig machen, beschämen und wenig bis keinen Handlungsspielraum erlauben, kann es zur einer Deformierung bis hin zu einer Blockade der Dialogfähigkeit kommen und damit eine Verunmöglichung der Stellungnahme bewirken.
Die Betrachtung der Ätiopathogenese dieser erschwerten bis verumöglichten Stellungnahme soll ein Teil dieses Vortrages sein. Wege mittels existenzanalytischer Ansätze aus einer biografisch bedingten Beeinträchtigung der Person Stellungnahmen zu vollziehen werden beschrieben und durch Fallvignetten verdeutlicht.
V13 BOLLE Geertje Wenn die Person zu schwinden scheint… Leben gestalten in der Demenz
In einer Verzahnung von Begleitungen aus der Praxis, phänomenologischer Annäherung und theoretischem Grund beleuchtet der Vortrag die Bezugnahme auf und das Arbeiten mit Biografie im Kontext der existenziellen Begleitung von Menschen mit Demenz. Die These: Existenziell zu leben, zu wachsen und das eigene Leben zu gestalten – ist auch in und mit einer Demenzerkrankung möglich.
Zeitgitterstörung contra Resonanzgeschehen? Gedächtnisverlust contra im Leibgedächtnis präsente Kontinuität von Lebensgeschichte? Musterhaftes Verhalten contra personales Gestalten? Diesen drei Aspekten geht der Vortrag nach. Dabei werden der Umgang mit Zeit, das Gedächtnis und die Freiheit der Person eine Rolle spielen – und die Frage, inwieweit wir in der Demenzerkrankung Themen begegnen, die letztlich uns alle in unserem existenziellen Sein betreffen.
V14 Alfried Längle Entwicklung – Reifung – Altern in Beratung und Therapie Der persönliche Beitrag zur Lebensgestaltung
In unserem Leben sind wir üblicherweise mit den täglichen Aufgaben, Problemen und Freuden beschäftigt. Sie ziehen die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, dass wir den großen Bogen unseres Daseins wenig oder kaum im Blick haben. Wer schaut schon auf die Gestalt und den Wurf seiner Biographie, des Gewordenseins und des ausstehenden Lebens? Zu sehr sind wir mit dem Täglichen oder vielleicht Jährlichen beschäftigt. Diese Anbindung an das Unmittelbare kann zu einer Zersplitterung, Verfransung, Kompartimentierung oder Partikularisierung des Lebens führen, in der der ganzheitliche Charakter dieses einen, meinigen Lebens verblasst.
Es soll hier der Versuch gemacht werden, diese weite Perspektive des Lebens in den Alltag, den Entstehungsort der Biographie, besser einzubinden und auch in Beratung und Therapie den Blick dafür zu schulen, um die aktuelle Arbeit in den Lebensbogen und mit der Reifung der Persönlichkeit zu verbinden. Entwicklung, Reifung und Altern finden ständig statt, markieren aber auch Lebensabschnitte. Worin bestehen sie, was sind ihre Strukturen? Und wie laufen ihre Prozesse ab? Spezielles Augenmerk ist auf die praktische Anleitung in Beratung und Therapie gerichtet, so dass wir unsere Patienten und Klientinnen nicht nur in ihren Sorgen und Nöten begleiten, sondern sie in ihrer Biographiegenese ganzheitlicher sehen und unterstützen können.