Christoph Kolbe

Leben diesseits der Bedingungen
Existenzanalytische Impulse zur Corona-Krise

Plötzlich ist angesichts der Corona-Pandemie für uns alle vieles, für manche gar alles anders geworden. Diese Veränderungen in unserem Dasein fordern uns in bisher nicht gekannter Weise heraus. Das ist eine Zumutung.

Niemand von uns hat sich diese Situation gewählt, sie hat sich schicksalhaft ereignet. Das gilt weltweit für alle Menschen. Und doch muss jeder einzelne Mensch sich auf seine Weise dieser Situation stellen, ohne dass er gefragt wurde, ob er das will. Dabei begegnen wir mehrfachen Zumutungen: Da ist die Ungewissheit einer möglichen Ansteckung mit ihren eventuellen Folgen dieser Erkrankung. Da sind die restriktiven Maßnahmen, die die Politik zum Schutz der Gesundheit anordnet, die den persönlichen Gestaltungs- und Lebensraum einschränken. Da sind die möglichen materiellen Folgen mit ihren Auswirkungen, die die Gesichertheit der eigenen Existenz oder eines Unternehmens betreffen können. Da sind Planungen und Vorhaben in ihrer ursprünglichen Idee, die plötzlich losgelassen werden müssen, auch wenn sich manche vielleicht modifizieren lassen. – Dies alles und sicher noch manches mehr ist völlig unverhofft auf uns alle
zugekommen. Der monolithische Charakter dieser Krise ist deshalb eine radikale und totale Zumutung. Das ist in dieser Dimension nicht alltäglich. Deshalb ist diese Situation besonders und neu. Und deshalb ist die Herausforderung, mit ihr zurecht zu kommen, so groß. Wir müssen uns darin orientieren und bewegen.

Nun steht unser menschliches Dasein immer schon im Horizont von Bedingungszusammenhängen, denken wir an unsere Veranlagungen, unsere Kultur oder unsere Geschichte. Das ist also nicht neu. Auch nicht die Tatsache, dass wir viele dieser Bedingungen nicht frei gewählt oder mitbestimmt haben. Trotzdem erleben wir uns normalerweise frei innerhalb dieser Bedingungen. Die Existenzanalyse betont deshalb, dass die Freiheit des Menschen nicht als Freiheit von
Bedingungen zu verstehen sei, sondern vielmehr als Freiheit, sich den Bedingungen zu stellen und mit diesen umzugehen. Deshalb ist es natürlich eine Einschränkung des Möglichkeitsraumes, wenn die Politik spezifische Verhaltensweisen in dieser Krise anordnet. Eine Einschränkung, die subjektiv hart empfunden werden kann, weil sie persönliche Vorhaben und Gestaltungsmöglichkeiten einschränkt. Dies tut sie mit Blick auf die Notwendigkeit der Gesunderhaltung der Menschen in unserer Gesellschaft. In Rücksichtnahme auf diesen Wert ist die Freiheit des Menschen nicht eingeschränkt, obgleich man dies mancherorts liest und hört. Denn jede Freiheit nimmt Bezug auf etwas und schließt damit anderes aus. So auch hier. Dass die Wahl eines Wertes immer im Zusammenhang mit anderen Werten steht, die es zu berücksichtigen gilt, gehört zur Struktur menschlichen Daseins. Hierfür gibt es keine objektiven Maßstäbe, um die Verhältnismäßigkeit ist zu ringen. Die Themen sind auszubalancieren. Wir begegnen hier jetzt insbesondere den Themen Erhaltung der Gesundheit des Einzelnen auf der einen und Erhaltung der Stabilität unserer gesamten Gesellschaft auf der anderen Seite.

Warum erleben Menschen diese Situation so unterschiedlich?

Der erste Grund liegt in der Mächtigkeit der Zumutungen, wie sie oben schon beschrieben wurden. Es handelt sich um Zumutungen, die aus dem Kontext der Welt auf den Menschen treffen, ohne dass dieser ausweichen kann. Wir alle müssen uns ihnen stellen und diese bewältigen. Und wie es mit Zumutungen so ist: Sind diese kleiner, schaffen wir das spielend, sind sie groß, können sie uns in die Verzweiflung treiben.

Der zweite Grund liegt in der Persönlichkeit und Geschichte des einzelnen Menschen. Wir haben auf unserem Lebensweg sehr verschiedene Erfahrungen gemacht, die sich in Überzeugungen und Gewissheiten sedimentiert haben. Und gerade diese Überzeugungen aktivieren sich unter der Zumutung dieser Situation. Es kann die grundlegende Angst vor der Sicherheit der Existenz auftreten, es kann die tiefe Verletzung und Beschneidung des eigenen Freiheitsraumes als Bedrohung erfahren werden oder es kann der aktuelle Verlust von Nähe den grundlegenden Zweifel einer Zugehörigkeit und Verbundenheit aktivieren. Für alle diese Themen gilt, dass sie nicht ursächlich durch diese aktuelle Situation entstehen, auch wenn es so aussehen mag, sondern hier „nur“ ausgelöst werden, aber ihren Ursprung in einer anderen biographischen Zeit haben. Dies erklärt, warum Menschen eine solche derzeitige Situation nicht alle gleich erleben.

Aber: In einer Zumutung liegt immer auch ein Zutrauen.

Wie können wir diese Situation bewältigen?

Zum Wesen des Menschen gehört es nach existenzanalytischer Auffassung, dass er mit den Gegebenheiten umgeht. So wird er zum Gestalter seiner Existenz. Und genau das ist das Zutrauen: dass der Mensch sein Leben gestalten will und kann. Zum einen braucht er Abstand zur Bedrohung und Bedrängnis, also seiner nachvollziehbaren und häufig auch verständlichen Befindlichkeit. Frankl nennt dies Selbstdistanzierung. Ich kann nicht nur meine Sorge oder Befürchtung sein, sondern aus diesem zuständlichen Gefühl heraustreten und erkennen, dass ich diese Gefühle der Sorge habe, sie anschauen und mit ihnen umgehen kann. Dies erfordert die Fähigkeit, mich meiner Sorge gegenüberzustellen. Vielen Menschen hilft hier der Humor. Er ist eine wundervolle Möglichkeit, zur Selbst-
distanzierung zu kommen. Denn er nimmt der Bedrängnis das Erdrückende. Die vielen kleinen Videos und Witze, die gerade vermehrt kursieren, haben diese Funktion. Wir merken, es tut gut, wenn wir von Herzen lachen können.

Und dann hilft es, der Befürchtung auf den Grund zu gehen. Das bedeutet: Was ist es über meine sorgende Befindlichkeit hinaus im Grunde, das mich bedroht, das schlimmstenfalls passieren könnte? Wäre es wirklich so schlimm, wenn es einträte? Und welche Möglichkeiten gäbe es stattdessen noch? So könnten Perspektiven entstehen, die neue Zukunft geben. Ein Umgehen mit der Situation aufgrund dieser veränderten Perspektive wäre möglich. Weil es wieder ein Morgen gibt, das eine Aussicht in sich trägt. Von Nietzsche stammt der Satz: „Wer ein Wozu im Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Darin ist die existenzanalytische Maxime enthalten, dass der Mensch ein intentionales Wesen, also auf Wertbezüge ausgerichtet ist. Diese geben ihm Kraft, Zuversicht und Hoffnung. Es kommt also nicht nur auf die Beruhigung der zuständlichen Befindlichkeit an, z.B. einer Befürchtung oder einer Unruhe, sondern maßgeblich auf einen neuen sinnstiftenden Kontext. – Nicht dass ich hier falsch verstanden werde: Natürlich ist es furchtbar und traurig, etwas lassen zu müssen oder nicht leben zu können, das persönlich bedeutungsvoll erlebt wird. Das gilt es zu betrauern. Wir Menschen brauchen darüber hinaus eine Perspektive. Erst diese gibt uns Sinn. Wir finden sie in neuen persönlichen Wertbezügen.

Was werden wir aus dieser Krise lernen?

Manche sprechen von einem historischen Moment, in dem wir stehen. Wird es ein Nachdenken und ein Umdenken geben, wenn diese Krisenzeit vorüber ist? Wir wissen es nicht. Wir können darauf hoffen. Einerseits ist zu beobachten, dass der Mensch träge ist. Deshalb hat C.G. Jung einmal gesagt: Ohne Not verändert sich nichts. Am wenigsten die menschliche Persönlichkeit. Gleichzeitig zeigt uns ein Blick auf die Bewusstseinsentwicklung des Menschen, dass neue
Erkenntnisse möglich sind und dann ihre Umsetzung und Anwendung finden. der Menschen und seiner ihn umgebenden Welt einschließt.

Dieses Vertrauen in unsere Fähigkeiten, mit Schwerem umgehen zu können, kann uns Zuversicht geben. So wird deutlich, dass eine Zumutung immer auch Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten der Persönlichkeit mit all ihren kreativen Kräften freisetzt und das Zutrauen in diese Möglichkeiten letztlich überwiegt.

Dr. Christoph Kolbe ist Psychologischer Psychotherapeut in Hannover und Präsident der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse International, Wien.
existenzanalyse.org | christophkolbe.de
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